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Die Gesellschaft im neuen Land
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Männer mit Diplomen (Reykjabók AM 345 fol.) |
Ge sellschaftsstruktur
Die Zeit der Landnahme endete ungefähr 930. Darauf folgte die Zeit, die nach der Regierungsform des Landes benannt ist und als Zeit des isländischen Freistaats (dieser im 19. Jahrhundert verwendete Begriff wird für die isländische Gesellschaft bis 1264 gebraucht) bezeichnet wird. Die Gründung des Althings und die Formulierung der Landesgesetze markieren den Beginn dieser Ära. Sie definiert sich über die Gemeinschaft der Menschen und Familien unter dem Vorsitz der reichen Oberhäupter, die vor dem Gesetz gleichgestellt waren. Die Isländer scheinen sich die Verhältnisse in Westnorwegen zum Vorbild für ihr Justizwesen und ihre Gesetzgebung genommen zu haben, wo ein Teil der Landnehmer seine Wurzeln hatte. Dort herschten ähnliche Verhältnisse - so war auch hier das Land in Bezirksthinge unterteilt. Das Althing Islands galt demgegenüber für das ganze Land und alle Bewohner hatten den gleichen Gesetzen zu folgen. Das Thing fand an einem bestimmten Ort, in Þingvellir (Ebene der Volksversammlung‘ im Südwesten Islands), statt und aus dem ganzen Land kamen die Leute, nicht nur um diese Volksversammlung abzuhalten, sondern auch um sich in den ein bis zwei Wochen, die das Thing dauerte, auszutauschen, Handel zu treiben und sich mit Spielen und anderen Vergnügungen zu unterhalten.
Die Aufgabe des Althings
Das Althing fand einmal im Jahr im Sommer statt; seine Funktionen teilten sich in zwei Bereiche. Dort tagte die Gesetzesversammlung oder die lögrétta (Gesetzenkammer), die die Aufgabe hatte, über die Auslegung von Gesetzen zu entscheiden. Es tagte auch ein Gerichtsthing, so wurden kontroverse Streitfragen, die nicht zwischen den jeweiligen Parteien beigelegt werden konnten, vor Gericht entschieden, so wie es von jeher bei den germanischen Völkern Praxis war. Das einzige Amt des Freistaats war das des lögsögumaðr, den Gesetzessprechers. Diejenigen, die diese Respektsposition inne hatten, hatten die Aufgabe, innerhalb von drei Jahren die Gesetze auf dem Althing aufzusagen und die Zusammenkünfte der Gesetzeskammer zu leiten.
Die Gesetzeskenntnis in der mündlichen Gesellschaft
In den ersten 200 Jahren wurden die Gesetze der Isländer mündlich überliefert. Sie bauten auf dem Gewohnheitsrecht und dem Gedächtnis der Gesetzeskundigen auf, die darin geschult wurden, über die Rechtmäßigkeit der Gesetze zu entscheiden oder sie in Übereinstimmung mit dem allgemein gültigen Recht zu interpretieren. Das Aufsagen der Gesetze auf dem Althing trug dazu bei, diese förmlich festzuhalten und zu verstärken. Die Gesetzeskammer sollte Gesetze bzw. deren Auslegung berichtigen, wenn ihre ursprüngliche Bedeutung unklar geworden war. Vor dem Gericht diente entweder die Aussage eines Zeugen der Beweisführung oder eine Art Jury (kviðr), z.B.búakviðr, in der die Bewohner des selben Landesteils aus dem die beschuldigte Partei kam, vor Gericht argumentierten, ob sie die Klage für berechtigt hielten oder nicht.
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Bildliche/dekorative Initiale, Drache und Löwe, aus AM 346 fol. Von ca. 1350. |
Goden und Bauern
Das Althing war eine Generalversammlung mit gesetzgebender und richterlicher Gewalt für das ganze Land. Mit seiner Gründung um 930 wurde das Land in 36, später 39 Godentümer aufgeteilt. Sie waren die grundlegenden Bausteine der Verfassung des Landes. Diese Ämter wurden von den Goden geführt, die Familien- oder Bezirksoberhäupter waren und die mächtigste Schicht der Gesellschaft ausmachten. Die Godentümer waren persönliches Eigentum der Goden und konnten vererbt, aber auch gekauft oder verkauft werden. Männer konnten sie als Geschenk bekommen oder sie gemeinsam mit anderen besitzen, aber sie konnten sie auch aufgrund schwerwiegender Verfehlungen verlieren. Alle Bauern waren verpflichtet, einem Goden Gefolgschaft zu leisten, den sie jedoch selber wählen konnten. Die Verpflichtung des Goden lag darin, seine Leute zu beschützen und gegen Übergriffe zu verteidigen, um den Frieden im Bezirk zu sichern und Recht durchzusetzen und zu gewährleisten. Die Goden waren Mitglieder der Gesetzeskammer auf dem Althing und hatten dort je zwei Berater an ihrer Seite. Insgesamt bestand die Gesetzeskammer aus 144 Mitgliedern. Nach der Annahme des Christentums zählten auch die beiden isländischen Bischöfe dazu. Die Goden verfügten alleinige über das Stimmrecht bei gesetzlichen Entscheidungen und benannten auch die Richter bei allen Rechtssprechungen.
Gerichte und Thing
Gegen 960 entschied man auf dem Althing, das Land in Viertel zu teilen. Für jedes wurde ein Thing gegründet und mehrere Godentümer vergeben, womit die Bezirksgerichte entstanden. Auf dem Althing wurde ein alle vier Jahre stattfindendes Gericht gegründet. Im Südlandviertel, Östfjordviertel und im Westfjordviertel gab es jeweils neun Godentümer, im Norðlendingaviertel dagegen zwölf. Zum Ausgleich bekamen die anderen Viertel einen zusätzlichen Goden auf dem Althing. Insgesamt gab es also 48 Goden, die die gesetzgebende Gewalt des Landes inne hatten, die Zahl der Godentümer blieb bei 39.
In jedem Viertel wurde jährlich ein Frühlings- und ein Herbstthing abgehalten, bei denen jeweils drei (bzw. vier) Goden der Versammlung vorstanden. Das Frühlingsthing war unter anderem das Gerichtsthing in den Bezirken. Dort kamen ungeklärte Streitfälle vor Gericht und es wurden auch Bußzahlungen eingefordet und Bußkataloge festgesetzt. Das Herbstthing wurde genutzt, um den Bezirksmännern zu verkünden, was auf dem Althing im Sommer beschlossen worden war. Auf dem Althing fanden die fjórðungsdómar ('Bezirksgerichte') statt, eines für jedes Viertel. Dort wurde über Klagen verhandelt, die auf dem Frühlingsthing nicht abgeschlossen worden waren. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts wurde ein neues Gericht eingeführt, das fimmtardómr (‘fünftes Gericht’), das eine Appellationsinstanz darstellte, bei dem die Mehrheit über den Ausgang des Urteilsspruches abstimmte. Dieses Ergebnis durfte man nicht anzweifeln oder noch einmal vor Gericht bringen.
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Dekorative Initiale am Anfang der Þingskapaþáttr in der Kónungsbók der Grágás, GKS 1157 fol., f. 9va. Der Þingskapaþáttr ist nur in der Kónungsbók überliefert, die ungefähr in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstand. |
Streitfrage über Godentümer und Goden
Überlieferungen über den Ursprung und die Organisation des Freistaats lassen sich am ehesten in den überlieferten Gesetzessammlungen sowie in den schriftlichen Quellen aus dem 12. und 13. Jahrhundert, wie die Íslendingabók und Landnámabók, die Isländersagas und andere zeitgenössische Geschichten, finden. Allerdings stimmen diese Quellen nicht unbedingt miteinander überein. Die Gesetzessammlung des Freistaats wird Grágás ('Graugans') genannt; ihre überlieferten Fragmente gehören zu den ältesten Handschriftenüberresten. Die Grágás war kein einheitliches Gesetzesbuch, sondern eher eine Sammlung von Gesetzen, Kommentaren und Fallbeispielen aus unterschiedlichen Zeiten. Zwei Haupthandschriften der Grágás, die Kónungsbók Gks 1157 fol. und die Staðarhólsbók AM 334 fol., die erste ungefähr auf 1250 datiert und die zweite um 1270, haben z.B. verschieden lange Texte und unterscheiden sich in Struktur und Aufbau, obwohl sie größtenteils den gleichen Inhalt aufweisen. Diese Bücher, die möglicherweise zum Teil als (gesetzliche) Norm galten, wurden wahrscheinlich zusammenstellen, bevor sich die Isländer dem norwegischen König unterwarfen oder kurz danach, als es absehbar war, dass im Land bald neue Gesetze eingeführt werden würden.
Die Kónungsbók ist trotzdem immer noch die einzige Überlieferung über das Gesetz und den Aufbau des Freistaats und ihre Erklärungen zur Anzahl der Godentümer, Thinge und Gerichte sind nicht zuletzt die Quellen, auf die man sich heute noch beruft, obwohl sie nicht unumstritten sind. Nach den Isländersagas, die vom Beginn der Landnahme bis über die Christianisierung hinaus erzählen, aber wahrscheinlich erst später niedergeschrieben wurden, scheint es mehr Godentümer gegeben zu haben, als in der Kónungsbók der Grágás aufgezählt werden. Aber aus den Erzählungen der zeitgenössischen Literatur vom Beginn des 12. und 13. Jahrhunderts muss geschlossen werden, dass es eher weniger gewesen sind. Es ist sicher, dass sich die Verteilung der Macht im Freistaat im Laufe der Zeit veränderte und dass einige Wenige Macht und Godentümer anhäuften. Vielleicht hatten die Schreibkunst und die Buchkultur der christlichen Kirche ihren Anteil am Aufschwung einiger Familien oder einzelner Goden im Vergleich zu anderen.
Die religiöse Rolle der Goden
Über die Wortverwandtschaft zwischen goði ('Gode') und goð ('heidnischer Gott') gibt es keine großen Zweifel. Über die religiöse Rolle der Goden im isländischen Freistaat gibt es hingegen unterschiedliche Ansichten und die alten Quellen darüber werden verschieden interpretiert. Es wurde von der Wissenschaft immer wieder angezweifelt, dass die Macht der Goden sich ursprünglich aus ihrer religiösen Führung ergeben hat, z.B. weil sie einen Tempel hatten oder Opfer brachten. Ihre Macht beim Thing und bei der Rechtssprechung im Land liege eher in ihrer vornehmen Herkunft begründet und darin, dass sie eine Gefolgschaft hatten, die sie im Kampf unterstützte, so wie es auch bei anderen altnordischen oder germanischen Völkern der Fall war.
Andere haben darauf verwiesen, dass es wegen der Lage des Landes nicht nötig war, in der gleichen Art und Weise wie im Ausland auf einen Angriff vorbereitet zu sein. Deshalb hatte die Gemeinschaft weniger Bedarf an Heerführern, wie Königen, Jarlen und Hersen, die für gewöhnlich die Macht in Norwegen inne hatten. Der höchste Rang eines Oberhaupts auf Island war der Godentitel. Dieser habe eher in den Händen derjenigen gelegen, die für Opfergaben und die Durchführung der Things verantwortlich waren. Angesichts dessen lassen sich vielleicht sowohl die Erzählungen von einer friedlichen Christianisierung des Landes besser nachvollziehen, als auch die Entstehung der christlichen Gemeinschaft des Mittelalters. Diese war nicht unter der Herrschaft eines Königs, aber unter der Führung einer Gruppe von Oberhäuptern, die zum Kirchenbau und der Verbreitung der christlichen Lehre beitrugen.
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