Alter und Inhalt der Handschriften
Beginn der Schriftlichkeit
Wie weite Teile Europas erreichte die christliche Schriftkultur schließlich auch Island, und mehr als nur Gottes Wort wurde in Büchern niedergeschrieben. Die in den Handschriften bewahrten Erzählungen zeigen, dass weitere Teile der Gesellschaft als nur der Klerus erreicht wurden. Die Íslendingabók von Ari dem Gelehrten aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts berichtet über die Niederschrift der bisher auf dem Alþingi mündlich vorgetragenen Gesetze im Winter 1117/18 und ist damit der älteste Beleg für eine Verschriftlichung mündlich überlieferten, heimischen Wissens in einem Buch.
Mit der Aufzeichnung der Gesetze wurden die Kenntnisse des Gesetzessprechers (lögsögumaður), der das wichtigste Amt in der von Mündlichkeit gekennzeichneten Gesellschaft und damit auch die Deutungshoheit über die Gesetzesartikel innehatte, auf diejenigen übertragen, die schreiben konnten. Das Ende dieser Entwicklung bildete die schriftlich fixierte Gesetzessammlung in Skálholt. Der Beginn der Schriftlichkeit in Island wird oft an diesem Ereignis festgemacht, aber vermutlich haben schriftkundige Isländer schon vorher Schreibfedern benutzt, zum Beispiel bei der Festlegung des Zehntgesetzes 1096/97, sichere Belege dafür gibt es aber nicht.
Der Erste Grammatische Traktat
Mitte des 12. Jahrhunderts schrieb ein unbekannter Isländer, Erster Grammatiker genannt, eine Abhandlung, die eine einzigartige zeitgenössische Quelle über die Sprache und hier vor allem über das phonologische System und die Schriftlichkeit in der ältesten Zeit der isländischen Buchkultur darstellt. Auch vom Inhalt ausländischer Bücher wird berichtet: „In den meisten Ländern sammeln Männer in Büchern entweder das Wissen über Dinge, die im Land passiert sind ist oder das, was ihnen erinnerungswürdig erscheint, obwohl es andernorts passiert ist, und die Leute schreiben ihre Gesetze nieder, jedes Volk in seiner Sprache“. Meistens sind auch in anderen Ländern Europas Gesetze, Annalen und Chroniken die ersten Texte, die in der Muttersprache und nicht auf Latein verschriftlicht werden.
Gesetz: das Gesetz des Freistaats, genannt Grágás, galt von ca. 930–1263. Die zweite Haupthandschrift, Konungsbók Grágásar Gks. 1157 fol. von ca. 1250. |
Das isländische Alphabet und das Schreiben in der Muttersprache
Der Erste Grammatiker entwarf ein Alphabet für das Isländische und stattete es mit verschiedenen Sonderzeichen aus, um alle Laute der Sprache verschriftlichen zu können. Er richtete sich nach dem englischen Vorbild, denn dort gab es das Christentum schon länger und auch das Schreiben in der Muttersprache blühte. Die Schöpfung eines isländischen Alphabets hielt er für sehr wichtig, da das Schreiben ‘in dänischer Zunge’ (dönsk tunga), also in der Muttersprache, üblich geworden war: „damit es einfacher wird,was jetzt geschrieben wird und in diesem Land, Gesetze, Genealogie oder ‘heilige Auslegungen’ [þýðingar helgar, damit können entweder Auslegungen religiöser Texte/der heiligen Schrift oder aber auch Übersetzungen der Bibel gemeint sein] oder das kluge Wissen, das Ari Þorgilsson mit weisem Verstand aufgezeichnet hat, zu lesen und zu schreiben, wie es ja auch hierzulande immer üblicher wird.“
Die oft zitierten Bemerkungen des Ersten Grammatikers gelten als wichtige Quelle für die Texte, die in seiner Zeit auf Island geschrieben wurden. Einige der Sonderzeichen verfestigten sich in der Schrift, aber kein überlieferter Text folgt ganz und gar seinen Vorgaben.
Religiöse Texte (Þýðingar helgar)
Latein war die Sprache der Kirche, und alle Messbücher waren auf Latein. Mit ihnen lernte der theologische Nachwuchs Messe zu halten, aber für die Verkündigung und Erklärung des christlichen Glaubens musste man eine Sprache gebrauchen, die das Volk im Land verstand. Unter ‘þýðingar helgar’ fallen die Texte, die als erste in der Volkssprache geschrieben wurden, übersetzte Erklärungen des Bibelstoffes und Geschichten von Heiligen, die deren Glaubenskraft unterstreichen. Unter den ältesten Handschriftenüberresten ist ein Fragment aus der Hómilíubók (Homilienbuch), AM 237 a fol. von ca. 1150. Homilien sind Predigten mit theologischen Erklärungen, die die Priester ihrer Gemeinde vortrugen.
Bei den ‘Þýðingar helgar’ lassen sich zwei Typen unterscheiden: Einerseits Erzählungen und andererseits Schriften, die christliches und moralisches Wissen vermitteln. Eine alte Bedeutung des Wortes þýðing (‘Übersetzung’) ist ‘Erklärung oder Auslegung von Texten’ (vgl. dt. ‘Deutung’), und es gilt als wahrscheinlich, dass die Worte des Ersten Grammatikers genau auf diese Erklärungen oder Deutungen der Bibel verweisen, die beim Missionieren oder während des Gottesdienstes vorgetragen oder weitergegeben wurden. Die Übersetzungen der Erzählungen, besonders der Heiligenlegenden, die benutzt wurden, um dem Leser und Zuhörer die christliche Ideenwelt nahe zu bringen, gehören ebenfalls zur frühesten volkssprachlichen Überlieferung.
Gesetz und Genealogie
Das älteste überlieferte Fragment der Grágás wird auf die Mitte des 12. Jahrhunderts datiert. Die Worte des Ersten Grammatikers darüber, dass die Verschriftlichung von Gesetzen schon früher begonnen hätte, werden durch den Bericht der Íslendingabók unterstützt – ein Beispiel für „hin spaklegu fræði“ Aris des Gelehrten. Die Íslendingabók ist nur noch in Papierabschriften aus dem 17. Jahrhundert überliefert und das einzige Werk, das mit Gewissheit Ari zugeordnet werden kann. Es ist wahrscheinlich, dass Ari außerdem das Wissen über die Landnahme Islands gesammelt hat, wie es aus der Landnámabók bekannt ist. Sie und viele andere alte Schriften enthalten Genealogien unterschiedlicher Art und Stammbäume von isländischen Priestern und Bischöfen sowie weltlichen Anführern oder ausländischen Königen, aber aus ältester Zeit ist keine spezielle genealogische Literatur überliefert.
Die Genealogie hatte praktische und soziale Bedeutung. Besitz- und Machtansprüche, Blutrache- und Versorgungspflichten und Eherecht beruhten zum Beispiel auf der Verwandtschaft der Menschen bis ins fünfte Glied. Aus Verwandtschaftsverhältnissen erklären sich auch Allianzen und Konflikte in vielen Erzählungen wie zum Beispiel in den Isländersagas oder der Sturlunga saga.
Wissenschaftliche Texte (Spakleg fræði)
Historisches Wissen, wie es der Priester Ari der Gelehrte in der Íslendingabók zusammentrug, wurde in anderen Ländern üblicherweise auf Latein niedergeschrieben. Der bereits erwähnte Traktat des Ersten Grammatikers ist ein anderes Beispiel für eine wissenschaftliche Abhandlung aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, die aus der westlichen Lehrtradition entsprungen ist. Sie gehört zur Grammatik (grammatica), einer der Sieben Freien Künste (septem artes liberales) und ist damit Teil des traditionellen lateinischen Wissenschaftskanons. Grammatische Schriften wurden für gewöhnlich auf Latein geschrieben, der Sprache der Kirche und der Gelehrsamkeit. Ari und der Erste Grammatiker trugen ihr Wissen in ihrer eigenen Sprache zusammen, ihr Werk und ihre Themen sind für die heimische Oberschicht gedacht, die gelehrten Geistlichen und die Angehörigen der führenden Familien. Der Gebrauch der Volkssprache in der wissenschaftlichen Literatur scheint schon zu Beginn des 12. Jahrhunderts in Island wesentlich stärker verbreitet gewesen zu sein als vielerorts auf dem europäischen Kontinent. Im Gegensatz zu den lateinischen Werken des Kontinents, die für ein regional weit verbreitetes gelehrtes Publikum bestimmt waren, zielten diese volkssprachlichen Schriften wohl eher auf die eigene Gemeinschaft und Gelehrten im westnordischen Sprachraum ab.
Wie ist die Handschriftenüberlieferung?
Die ältesten überlieferten Manuskripte oder Handschriftenfragmente werden auf die Mitte oder die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert. Ihre Thematik ist recht vielfältig. Größtenteils sind es christliche Texte ausländischen Ursprungs, Homilien und andere religiöse Texte; daneben gibt es aber auch Fragmente von Gesetzessammlungen und Lehrschriften. Insgesamt werden die Überreste ca. 25 Werken von gut 30 Schreibern zugeordnet. Die ältesten Fragmente der Gesetzessammlung Grágás, die die Gesetze des isländischen Freistaats enthält, sind von ca. 1150–75 und 1200–1225 (AM 315 d und c fol.). Aus der gleichen Zeit stammen auch die ältesten Aufzeichnungen zweier Kopialbücher, die die Kirche in Reykjaholt (Reykholt) und das Kloster Þingeyrar betreffen (Reykjaholtsmáldagi und AM 279 a 4to).
Schriften über Astronomie, den Lauf der Sonne, die Mondphasen, Monate und Jahreszeitenwechsel wurden früh übersetzt. Der älteste Text, der sich mit kalendarischen Berechnungen und verwandten Themen beschäftigt, ist die komputistische Abhandlung im vierten und ältesten Teil der Handschrift GKS 1812 4to von ca. 1180. Die Handschriftenüberlieferung stellt damit eine ziemlich exakte Bestätigung der Bemerkungen des Ersten Grammatikers über muttersprachliche Texte in der Mitte des 12. Jahrhunderts dar.
Die christliche Vorstellungswelt in Übersetzungen
Nicht nur in die altisländische Sprache wurde aus dem Lateinischen übersetzt, denn überall in Europa übersetzten Männer der Kirche verschiedene Schriften in ihre eigene Sprache, unter anderem ins Altsächsische, Altenglische und Altfranzösische. Als die Anpassung der nordischen Sprachen an den christlichen Begriffs- und Wortschatz begann, stützte man sich unter anderem auf die Angelsachsen, die schon einige Jahrhunderte christlich waren und zu denen die Skandinavier intensiven Kontakt hatten. Der Wortschatz des Altenglischen und Altsächsischen eignete sich gut zur Anpassung an die nordische Sprache wie die Beispiele prestur (Priester), munkur (Mönch), nunna (Nonne), engill (Engel), guðspjall (Evangelium, engl. gospel) oder synd (Sünde) zeigen. Die isländischen Verben für lesen und schreiben, lesa und skrifa, kommen z. B. aus dem Altsächsischen, das ältere ráða (ebenfalls ‘lesen’, vgl. dt. raten) und rita ‘schreiben’ aus dem Altenglischen (vgl. engl. read, write).
Die Übersetzer bemühten sich, nicht nur die Begriffe, sondern auch die Vorstellungswelt der Vorlagen für ihre Leser verständlich zu machen. Sie bildeten Wörter für zahlreiche lateinische Begriffe moralischer, religiöser oder philosophischer Art, indem sie die Bedeutung bestehender Begriffe erweiterten und neue bildeten. Die Ergebnisse war dabei zweifelsohne unterschiedlich erfolgreich und langlebig, aber die erhaltenen Übersetzungen bezeugen, dass es in Island Menschen gab, die sich die neue Denkweise angeeignet hatten und diese in ihrer eigenen Sprache heimisch machten, der sich so eine neue Begriffswelt eröffnete.
Übersetzte populäre Lehrschriften
Einige Übersetzungen können zu den populären Lehrschriften gezählt werden oder zu leichter zugänglichen Versionen gelehrter Literatur, die an Leute gerichtet waren, die kein Latein konnten. Sie vermittelten den Isländern Wissen und Strömungen aus anderen Kulturgemeinschaften. Viele lateinische Schriften des Mittelalters wurden in die meisten Sprachen des westlichen Europa übersetzt. Viele der auf Isländisch überlieferten Werke liegen beispielsweise auch in altenglischen oder altfranzösischen Übersetzungen vor.