Woher kamen die Siedler?
Herkunft der Siedler
In der Landnámabók wird von insgesamt 430 genannten Siedlern die Herkunft von 268 Männern und Frauen aufgelistet. Die allermeisten werden als Skandinavier bezeichnet (gut 90% der Männer und 80% der Frauen), obwohl auch Leute von den britischen Inseln erwähnt werden. Man muss bei der historischen Betrachtung beachten, dass die Landnámabók, die eine Geschichte über Männer ist, auch von Männern für Männer geschrieben wurde. Hauptsächlich werden die Hausherren erwähnt, aber nur die Namen weniger Frauen, Arbeiter oder Sklaven, deren Familien vermutlich britischer Herkunft waren. Es wird davon ausgegangen, dass insgesamt ungefähr zehn- bis zwanzigtausend Menschen während der Landnahmezeit kamen, von denen die Landnámabók nur einen sehr kleinen Teil abdeckt, nämlich besonders die dominierenden skandinavischen Großbauern, die die obere Schicht der Gesellschaft ausmachten. Dies ist bei der Betrachtung einer möglichen Zusammensetzung der Siedlergemeinschaft zu beachten.
Das Bild zeigt die Verbreitung des Altnordischen bzw. Altwestnordischen in Nordeuropa um das Jahr 1200, in den heller markierten Gebieten wurde nicht ausschließlich Altnordisch gesprochen.. |
Der westskandinavische Sprach- und Kulturraum
Norwegen sowie die anderen skandinavischen Siedlungen auf den Britischen Inseln, den Färöern, auf Island und Grönland gehörten alle dem westskandinavischen Sprachraum an und scheinen bis nach 1200 auch einen gemeinsamen Kulturraum gebildet zu haben. Einige britische Inseln waren bis ins 13. Jahrhundert unter norwegischer Herrschaft, andere sogar noch länger, bis ins 14. und 15. Jahrhundert.
Darüber hinaus war das westliche Skandinavien der Kirchenprovinz Nidaros (Trondheim) zugeordnet, nachdem dort 1152 oder 1153 ein eigenes Erzbistum gegründet worden war. Dänemark und Schweden unterstanden damals den Erzbistümern Lund und Uppsala. Zweifellos hatten die Verkehrsverbindungen sowie Gewerbe und Handel zwischen den westskandinavischen Gebieten eine wesentliche Bedeutung für deren Einwohner, nicht zuletzt auch für die entlegeneren Siedlungen im Norden. Von den kulturellen und politischen Verbindungen zeugen z.B. altisländische Schriftquellen und die in ihnen enthaltenen Sagas über die norwegischen Könige, die Bewohner der Färöer und der Orkneys sowie die Sagas über die Isländer und die Berichte über die Landnahme und die Besiedlung Grönlands durch Skandinavier.
Das skandinavische Erscheinungsbild
Der kulturelle Einfluss Skandinaviens war in Island schnell vorherrschend. Gesprochen wurde hauptsächlich Altwestnordisch, obwohl es auch keltische Lehnwörter, Personen- und Ortsnamen gab. Auch archäologische Funde deuten darauf hin, dass Arbeits- und Lebensweisen der Siedler haupsächlich skandinavisch geprägt waren. Keltische Einflüsse wurden am ehesten in der Dichtkunst gefunden, nicht zuletzt auch in der Tradition der Preislieddichtung und ihres Metrums Dróttkvætt („Hofton“). Dazu gehören auch Erzählmotive und Lieder aus vergangenen Zeiten, die im Mittelalter auf Island niedergeschrieben wurden, darunter die sog. Vorzeitsagas und mythologische Lieder.
Viele meinen, dass die isländische Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts nicht die ganze Geschichte der isländischen Siedler erzählt. Das Interesse der Isländer für ihre Herkunft führte dazu, dass Wissenschaftler auf dem Gebiet der Genforschung andere Wege suchten, um ein genaueres Bild der Zusammensetzung der Siedlergemeinschaft zu bekommen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass diese anders gewesen sein könnte, als es schriftliche Quellen und archälogische Funde nahelegen.
Das Zeugnis der DNA
Untersuchungen am Erbgut heute lebender Isländer und Isländerinnen im Vergleich mit Skandinaviern, Schotten und Iren haben gezeigt, wie die Zusammensetzung der Siedlergemeinschaft in Wirklichkeit ausgesehen haben könnte. Das Erbmaterial der isländischen Männer, die untersucht wurden, kann in gut 80% der Fälle nach Norwegen oder in die anderen skandinavischen Ländern zurückverfogt werden und nur in knapp 20% der Fälle zu den Britischen Inseln. Dagegen trugen ganze 62% der isländischen Frauen, die untersucht wurden, Erbmaterial, das sich auf die Britischen Inseln zurückführen ließ, während nur gut 37% der Frauen “skandinavisches” Erbgut besaßen.
Den Ergebnissen zufolge muss angenommen werden, dass insgesamt 60% der Siedler skandinavischer Herkunft waren und 40% von den Britischen Inseln kamen. Der hohe Anteil an Frauen von den Britischen Inseln kann zum Beispiel dadurch erklärt werden, dass die Bewohner der dortigen skandinavischen Siedlungen oft skandinavische Seefahrer waren, die sich mit einheimischen Frauen verheiratet hatten, bzw. deren Nachfahren. Sie spielten eine wichtige Rolle bei der Besiedlung Islands.
Die herrschenden Schichten und die Schriftkultur
Jene skandinavischen Männer, die die Besiedlung Islands anführten, bildeten die dominierende Oberschicht, doch auch ihre Frauen, Arbeiter und Sklaven, von denen vielleicht nicht wenige keltischen Ursprungs waren, hatten ihre Dichtungen und Geschichten. Diese wurden zweifelsohne unter ihnen weitererzählt, obwohl es so scheint, dass die nordische Kultur die Oberhand behielt. Das, was die mittelalterlichen Handschriften Islands bewahrten, ist geprägt von den Nachkommen und den Interessen der herrschenden Oberschicht, die ihre Geschichten – und damit auch ihre Werte – zu Pergament brachten, auch um ihren Anspruch auf Grundbesitz und ihre gesellschaftliche Stellung zu untermauern.
Die mündliche Erzähltradition der ärmeren Bauern, der Frauen und der unteren Gesellschaftsschichten, die von Anfang an neben der Buchkultur der Kirche und der gelehrten Oberschicht bestand, kam nicht in gleichemUmfang aufs Pergament. Inwiefern sich mündliche Erzähltradition und Schriftkultur gegenseitig beeinflussten, ist ein kompliziertes Thema, nicht zuletzt da die schriftlichen Quellen das einzige Zeugnis darstellen. Allgemein nimmt man an, dass mündliche Erzählungen und Dichtungen mit der Zeit eine immer geringere Rolle spielten, als schließlich Dichtungen, wie die Götter- und Preislieder und die mythologischen Erzählungen aus heidnischer Zeit aus der Snorra-Edda sowie Erzählungen und Gedichte von Helden und Königen der Vorzeit, wie auch die Geschichten über die Isländer der Landnahmezeit im 12., 13. und 14. Jahrhundert ihren Weg aufs Pergament fanden. Seit langem gibt es verschiedene Meinungen darüber und Diskussionen, wie groß der Einfluss der mündlichen Tradition bei der Entstehung der geschriebenen Geschichten war.