Sammeln von Handschriften und Árni Magnússons Sammlung
Zeugnis erhaltener Handschriften
Es ist weder möglich mit Gewissheit zu sagen, wie umfangreich die Buchproduktion im Mittelalter war, noch wie verbreitet einzelne Werke waren. Das Bild des literarischen Schaffens, das erhaltene Handschriften und Handschriftenbruchstücke vermitteln, ist fragmentarisch, da deren Überlieferung oft vom Zufall abhängig ist. Man weiß nicht, wie typisch oder aufschlussreich die Manuskripte oder Fragmente, die der Zerstörung entgingen, für die Büchersammlungen oder die wissenschaftliche Arbeit ihrer Entstehungszeit waren. Wenn man diese Vorbehalte im Hinterkopf hat, lassen sich aber aus den tatsächlich vorhandenen Quellen Schlussfolgerungen ziehen.
Wieviel ist erhalten?
Es ist anzunehmen, dass die aus dem Mittelalter erhaltenen Handschriften nur einen Bruchteil der Büchersammlungen jener Zeit ausmachen. Vielleicht ist ein Zehntel davon erhalten, möglicherweise sogar weniger, nicht zuletzt aus ältester Zeit. Fast sicher ist, dass, im Vergleich zu muttersprachlichen Büchern, verhältnismäßig wenig lateinische Bücher auf Island überliefert wurden. Das liegt größtenteils an der Zerstörung katholischer Schriften nach der Reformation 1550 und dem geringeren Interesse der Handschriftensammler im 17. Jahrhundert an diesen Büchern.
Das Alter der Texte und das Alter der Handschriften
Die wenigsten isländischen Handschriften aus dem Mittelalter, die sich heute in Sammlungen befinden, gelten als Originaltexte. Es sind eher Abschriften älterer, verloren gegangener Handschriften. Daher werden die meisten Texte als älter angesehen, als die ältesten Handschriften, in denen sie enthalten sind. Inwieweit das Exemplar der ältesten Handschrift dann das Original, eine Abschrift oder eine Abschrift der Abschrift einer älteren Handschrift ist, ist nicht einfach zu bestimmen. In einigen Fällen nimmt man an, dass die älteste Handschrift dem Verfassen oder der Zusammensetzung des Textes näher ist, in anderen herrscht größere Ungewissheit darüber wie weit sie vom Original entfernt ist.
Wie verhält es sich mit der Bewahrung von Handschriften?
Im Allgemeinen sind weniger Handschriften erhalten, je länger die Zeit ihrer Niederschrift zurückliegt. Verschleiß und Überalterung setzten den Büchern zu jeder Zeit zu und Veränderungen in der Rechtschreibung oder der Schrift führten dazu, dass ältere Bücher schwerer zu lesen waren, was es wahrscheinlicher machte, dass sie in Vergessenheit gerieten. Oft wurden auch Bücher in Hausbränden zerstört, zum Beispiel auf den beiden Bischofssitzen. Aber besonders der Wechsel zum lutherischen Glauben hatte ohne Zweifel die schicksalhafteste Bedeutung für die mittelalterlichen isländischen Pergamentbücher. Die Reformation im Jahre 1550 führte dazu, dass viele katholische Schriften und lateinische Bücher ausrangiert und im großen Stil zerstört wurden.
Einwohnerzahlen und die zerstreute Besiedlung in Island
Als der Bischof Gizur Ísleifsson (1042-1118), gewiss wegen der Einführung des Zehntgesetzes 1097, die steuerpflichtigen Bauern zählen ließ, scheinen es gut 4500 gewesen zu sein. Von dieser Zahl ausgehend, kann die Einwohnerzahl Islands gegen Ende des 11. Jahrhunderts, je nach rechnerischer Voraussetzung, auf 40-80.000 geschätzt werden. Island ist 103.000 km² groß und somit die zweitgrößte Insel Europas, größer als Irland oder Dänemark. Siedlungen verteilen sich entlang des Küstenstreifens bis hinein in die Täler. Das Hochland ist unbewohnt. In den Wintermonaten kam die Schifffahrt von und nach Island weitestgehend zum Stillstand, sodass große Teile des Jahres weder Menschen, Waren noch Neuigkeiten über das Meer kamen. Wenn die Einwohnerzahl des Landes im Zeitraum 1100-1300 durchschnittlich bei 50-55.000 lag, ist es offensichtlich, dass das Leben der Menschen von der dünnen Besiedlung des Landes geprägt wurde.
Nyibær ('der neue Hof') auf Hólar im Hjaltadal. Der Torfhof wurde 1860 erbaut. Bild von Wikipedia. |
Feststehende Gemeinschaft auf dem Lande
Größere Ansiedlungen entstehen auf Island erst im 18. und 19. Jahrhundert, als sich die Menschen in Küstengemeinden niederließen. Landwirtschaftliche Traditionen und Arbeitsmethoden änderten sich jedoch kaum. Auf den Bischofssitzen und großen Bauernhöfen des Landes lebten oft zahlreiche Menschen, z.B. wohnten um 1200 ca. 120 Leute in Skálholt. Die geringen Bevölkerungszahlen und die zerstreute Besiedlung hatten zweifellos ihren Anteil daran, dass, soweit man weiß, keine Regularkanonikerorden an den Domkirchen tätig waren,die im Ausland oft großen Einfluss auf den Schulbetrieb hatten. In Island waren Klöster eher klein und nur wenige Menschen lebten dort, trotzdem scheint unermüdlich literarische Arbeit geleistet worden zu sein.
Der Ort der Bücher in Island
Auf Island waren nicht die gleichen Bedingungen zur Lagerung von Büchern vorhanden, wie in den Bibliotheken im Ausland. Die Häuser waren aus Holz und Torf und es gab keine großen Siedlungskerne oder kulturellen Zentren wie die Erzbischofsitze, Hochschulen und Hof- oder Domschulen in dichtbesiedelten Ländern. Die oberste Leitung der Kirche befand sich immer in einem anderen Land, seit 1154 in Nidaros, und ab 1263, nachdem sich die Isländer dem norwegischen König unterworfen hatten, auch die Könige des Landes. Von alters her hat eine starke Verbindung mit Norwegen und den westnordischen Siedlungen (in Irland und auf den schottischen Inseln) bestanden und die Beteiligung der Großbauern an der Buchkultur war umfangreich.
Die Klöster und die Bischofssitze in Skálholt und auf Hólar waren die wichtigsten Bildungs- und Kultureinrichtungen des Landes. An bekannten großen Bauernhöfen und Kirchenstandorten gab es ebenfalls einen literarischen Betrieb, Bibliotheken und Unterricht, die aber durch die bescheidene Größe der Einrichtungen geprägt waren. Auf diesen Höfen scheint man, nach Umfang und Bandbreite der erhaltenen mittelalterlichen Texte in der Muttersprache zu urteilen, nicht zuletzt aus der Zeit, als die Isländer anscheinend auch für den norwegischen Büchermarkt schrieben, sehr produktiv gewesen zu sein.
Büchersammlungen in Klöstern und Bischofssitzen
Kopialbücher aus dem Mittelalter beinhalten unter anderem Listen über den Besitz der Kirchen, Klöster und Bischofssitze und bieten einen Einblick in deren Buchbestände. Nach der Reformation wurden diese aufgelöst. In einigen Klöstern gab es bis zu 200 Bücher und aus den Kopialbüchern, die Namen und Inhalte der Bücher angeben, kann man schließen, dass darunter die bedeutendsten theologischen Werke des Mittelalters, Homilien und Heiligenlegenden waren. Im Kloster in Möðruvellir im Hörgárdalur gab es auch weltliche Schriften, zum Beispiel die Skjöldunga saga, die Völsunga saga oder die Hrólfs saga kraka. Sogenannte 'nordische Bücher' waren in den Kirchen und Klöstern weit verbreitet.
In den Bibliotheken der Bischofssitze befanden sich die wichtigsten Schriften aus Theologie, Liturgie und Kirchenrecht von bekannten Gelehrten wie Papst Gregorius und Thomas von Aquin. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts besaß das Bistum Hólar gut 300 Bücher, und dass der durchschnittliche Wert eines Pergamentbuchs im Mittelalter fast bei dem Wert einer halben Kuh lag, zeigt, wie wertvoll die Bibliotheken waren.
Bücher im Handschriftenmagazin der Arnamagnæanske Samling in Kopenhagen. Fotografin Suzanne Reitz. |
Über Pergamentbücher nach der Reformation
Einige Zeit nach der Reformation kamen etliche Bücher der Klöster in den Besitz Brynjólf Sveinssons (1605-1675), Bischof von Skálholt und antiquarisch interessiert, der im 17. Jahrhundert die größte Sammlung isländischer Bücher besaß. Brynjólf hielt es für das Beste, die isländischen Pergamenthandschriften in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen unterzubringen, da dort bessere Aufbewahrungsbedingungen herrschten und es möglich war, an der Herausgabe der Bücher zu arbeiten. Er schickte sowohl seinem König als auch verschiedenen Altertumsgelehrten in Dänemark isländische Pergamenthandschriften als Geschenk.
Während der Zeit des Humanismus in Europa wurden viele isländische Handschriften nach Dänemark und Schweden gebracht. Der produktivste Sammler war Árni Magnússon, der jeden Schnipsel Pergamenthandschrift isländischen Inhalts ergatterte, sich aber weniger um die lateinischen Schriften kümmerte, die er sogar als Büchereinbände benutzte. Árni erwarb unter anderem einige Pergamentbücher aus Brynjólfs Sammlung, die nach dessen Tod aufgelöst wurde.
Menge der erhaltenen mittelalterlichen Handschriften
Seit der Christianisierung gab es lateinische Bücher im Lande und man nimmt an, dass das Schreiben in der Muttersprache um 1100 begonnen hat. Das älteste erhaltene Handschriftenfragment wird auf ca. 1150 datiert. Das Ende des Mittelalters setzt man in Island mit der Reformation im Jahre 1550 an, sodass sich die Zeit des Schreibens überlieferter mittelalterlicher Handschriften über vier Jahrhunderte erstreckt. Aus dieser Zeit sind ca. 750 Pergamenthandschriften oder Fragmente erhalten. Die Ära des Pergamentkodex reichte bis über die Jahrhundertwende zum 17. Jahrhundert hinaus, insgesamt sind gut 1000 Pergamenthandschriften überliefert. Einige Abschriften verlorengegangener mittelalterlicher Kodizes sind in Papierhandschriften aus dem 17. Jahrhundert enthalten. Die Pergamenthandschriften, die den Handschriftensammlern im 17. Jahrhundert nicht in die Finger kamen und außer Landes gebracht werden konnten, sind für gewöhnlich auch verloren gegangen.
Datierung mittelalterlicher Handschriften
Die wenigsten Texte aus dem Mittelalter geben einen Verfasser an. Sind sie bekannt, waren es entweder Mönche, Priester oder weltliche Führungspersönlichkeiten. Wenige Pergamenthandschriften sind vollständig erhalten und viele sind mehr oder weniger beschädigt. Manchmal sind nur ein Blatt oder wenige Pergamentblätter oder Blätterteile erhalten und auch von den alten Bucheinbänden ist meist nicht viel übrig. Die Manuskripte selber sind selten datiert, noch weniger sind Schreiber oder Orte des Schreibens angegeben. Die Datierung der Schriften basiert gewöhnlich auf einer Analyse der Schrift und der Rechtschreibung. Diplome und andere datierte Dokumente sind für die Analyse von besonderer Bedeutung, da deren Datierung genau und mit namentlich bekannten Leuten verbunden ist. Durch die Untersuchung von Handschriften und Handschriftengruppen ergeben sich manchmal Hinweise auf wahrscheinliche Schreiborte und auf deren kulturelles Milieu, sowie auf die literarischen Vorlieben der Auftraggeber und Produzenten.
Ist die Datierung von Handschriften wichtig?
Für die Literaturgeschichte sind die ältesten erhaltenen altertümlichen Texte von Bedeutung, wenn man deren Chronologie und gegenseitigen Beziehungen verstehen möchte. Auch für das Verständnis der Kontexte, der Weltanschauungen der jeweiligen Zeit oder der literarischen Entwicklung der Texte und Epochen ist dieses Wissen wichtig. Das Alter der ältesten Handschrift oder des ältesten Fragments markiert die sogenannte obere Zeitgrenze (terminus ante quem) des Textes und ist das erste unwiderlegbare Zeugnis seines Daseins. Es gibt Fälle von falsch datierten Texten, bei denen das Alter der ältesten Handschrift nicht bekannt war oder nicht berücksichtigt wurde. Die Datierung von Handschriften ist auch für die sprachgeschichtliche Forschung wichtig, da sie die bedeutendsten Quellen sprachlicher Veränderungen und Entwicklung sind.
Wie werden Handschriften datiert?
Die Datierung von Handschriften, die von zentraler Bedeutung für unser Wissen über die mittelalterliche Schriftkultur und auch für die Forschung auf anderen Wissensgebieten ist, kann auf unterschiedliche Arten erfolgen. Es kommt selten vor, dass eine Handschrift als zeitgenössische Quelle von ihrem Entstehen berichtet, wie dies im Vorwort der Flateyjarbók oder der enzyklopädischen Schrift AM 194 8vo der Fall ist. Darin erwähnt der Schreiber den Zeitpunkt der Verschriftlichung: Dies wurde geschrieben, als seit der Geburt [Jesu] 1387 Winter vergangen waren, und war dies der erste Winter im 17. Mondzeitalter." [Als tunglöld, ung. 'Mondzeitalter', wird ein Zeitraum von 19 Jahren bezeichnet] Sein Name und der Ort des Schreibens werden auch benannt: "Der Priester Ólafur Ormsson schrieb in der kleinen Stube auf Geirraðareyri und er besitzt das ganze Buch, außer wenn er mich jemandem gegeben hat, ohne es zu wissen. Versprich, mich zu lesen, aber pass auf mich auf und stiehl mich nicht."
Untersuchungen der Handschriften der Schreiber
Manchmal kann die Zeit der Verschriftlichung auch durch Hinweise in der Handschrift herausgefunden werden, zum Beispiel in der Skarðsbók Jónsbókar AM 350 fol. aus dem Jahre 1363. Jedes Manuskript, das man mit einer bestimmten Gewissheit datieren kann, ist für die Datierung anderer Manuskripte aus der gleichen Zeit wichtig. Die Schreiberhände aus der Flateyjarbók und der Skarðsbók Jónsbókar wurden zum Beispiel in anderen überlieferten Manuskripten gefunden, bei denen dadurch eine genauere Datierung möglich wurde. Solche Untersuchungen bestätigen auch die Existenz von Bücherzentren, in denen Texte und Bücher höchst unterschiedlichen Inhalts, religiös wie weltlich, zusammengetragen und geschrieben wurden.
Wer hielt die Feder und wann?
In den meisten Fällen richtet sich die Datierung der Manuskripte nach der Schrift und der Rechtschreibung. Dabei wird berücksichtigt, wie sich die Entwicklung der Schrift und der Sprachwandel, der sich an Veränderungen in der Orthographie ablesen lässt, auf Island vermutlich vollzogen hat. Unbekannte Faktoren wie Alter und Herkunft des Schreibers werden in die Überlegung mit einbezogen, da ältere Schreiber wahrscheinlich eher ältere Schriftarten verwendeten oder sich auf einer anderen Sprachstufe befanden als ihre jüngeren Arbeitskollegen. Außerdem haben unterschiedliche Sprachwandelphänomene ihren Ursprung in unterschiedlichen Landesteilen und verbreiteten sich unterschiedlich schnell. So kann die Datierung nie auf einen genaueren Zeitraum als 50 Jahre umfassen. Eine Handschrift, die auf das Jahr 1200 datiert ist, kann also irgendwann zwischen 1175 und 1225 verfasst worden sein.