Runen und mündliche Überlieferung
Ein Kampf mit Zuschauerin. Zeichnung auf dem Rand einer Seite in der Belgdalsbók, AM 347 fol. aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. |
Mündliche Überlieferung
Obwohl es seit Jahrtausenden Schriftkulturen gibt, ist erst ziemlich wenig Zeit vergangen, seitdem eine Mehrheit der Menschen in der westlichen Welt Zugang zu Bildung und damit auch Büchern bekommen hat. In einigen Ländern der Welt haben viele Menschen noch immer nicht die Chance auf Bildung und sind weder des Lesens noch des Schreibens mächtig.
Schriftkultur ist ein wesentlicher Bestandteil modernen Gesellschaften; Analphabeten haben es daher oftmals schwerer als andere. Dabei geht es bei der Alphabetisierung nicht nur um die Fähigkeiten, Buchstaben zu entziffern und aufzuschreiben, sondern genauso um den Zugang zu Kommunikationen und Wissen, um die Teilhabe an Sprache und Kultur. Schriftliche Mitteilungen oder Anleitungen begegnen einem fast überall, nicht bloß auf Papier, sondern auch auf Fernseh- und Computerbildschirmen, Schildern und Wegweisern. Analphabeten haben deshalb häufig einen beschränkteren Zugang zu Informationen und somit zu einer umfassenden Partizipation an der Gesellschaft.
Vor der Zeit von Schriftlichkeit und Büchern beruhten Kommunikation und Bewahrung von Wissen auf mündlicher Überlieferung, dem gesprochenen Wort. Die Leute erzählten von Ereignissen, vermittelten Geschichten und Gedichte, um sich auf diese Weise sowohl das Wissen als auch die moralischen Regeln der Gesellschaft anzueignen und aneinander weiterzugeben, aber auch um sich selbst und andere zu unterhalten. Rituale und Glaubenspraktiken basierten auf gesprochener, gesungener oder metrisch geformter Sprache, Gesetze wurden erlassen und Richtersprüche verkündet, alles ohne die Hilfe von geschriebenen Texten oder Büchern.
Runenschrift auf dem Rand einer Buchseite, offensichtlich mit einer anderen Tinte als der Haupttext des Buchesgeschrieben. |
Lebendige Überlieferung
Mit jedem Vortrag einer Saga oder eines Gedichts erfolgte zugleich eine Erneuerung und Neuschöpfung, da der Vortragende sich an seinen Zuhörern und der Absicht der Aufführung orientierte. Erzählstoffe befanden sich folglich in einem ständigen Prozess der Aktualisierung, manches wurde hinzugefügt oder weggelassen, jeweils abhängig von den Umständen und dem Publikum. Falls eine Saga oder ein Gedicht dem Vergessen anheimfiel, ging es endgültig verloren und konnte nicht wiedererlangt werden. Sicherlich wurde es als wichtig erachtet, dass die Gesetze und Regeln der Gesellschaft unverändert weitergegeben und im Gedächtnis behalten wurden, und dasselbe galt gewiss auch für die festen Wortfolgen und Gesänge, welche oftmals mit religiösen Handlungen einhergehen.
In gleicher Weise dienen die Versregeln der Dichtkunst, Stabreim, Binnenreim und Metrum, zur Unterstützung der Erinnerung. Die altnordische Dichtung, d.h. die Eddalieder, die man in Götter- und Heldenlieder unterteilt, wie auch viele Skaldendichtungen, sog. dróttkvæði (Preisgedichte, z.B.auf Könige), wurden meist erst im 13. Jahrhundert oder später auf Pergament niedergeschrieben; man geht aber davon aus, dass viele vor dem Zeitalter der Schrift entstanden sind und zunächst mündlich überliefert wurden.
Runen
Zu der Zeit als Island besiedelt wurde, besaßen die nordischen Völker schon seit langem eine Schrift, die Runen, welche in festes Material - Holz, Horn oder Stein – geritzt oder gehauen wurden und sich durch gerade Linien und spitze, ungerundete Winkel auszeichnen. Runen sind unter den germanischen Völkern entstanden und haben ihren Ursprung eventuell auf dem Gebiet des heutigen Dänemark, denn die ältesten Runeninschriften, die man bislang gefunden hat, stammen größtenteils von Seeland und Fünen sowie aus Jütland und Süd-Schonen. Man vermutet, dass sie aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts stammen und ihr Vorbild das lateinische Alphabet war, wie es im römischen Herrschaftsgebiet des 1. Jahrhunderts n. Chr. gebraucht wurde.
Das Wort Rune (isl. rún) bedeutete ursprünglich so viel wie „Geheimnis“ oder „geheimes Zeichen“ und Runen waren oft verbunden mit Zauber(ei), Prophezeiungen und Orakelsprüchen. Laut dem Eddalied Hávamál („Sprüche des Hohen“) sind sie göttlichen Ursprungs, eng verbunden mit Odin, dem Gott der Dichtkunst und der Weisheit. In den Hávamál (Strophe 138-145) wird unter anderem erzählt, wie Odin sich selbst opfert und neun Nächte lang in der Weltenesche Yggdrasill hängt, um Wissen zu erlangen, einschließlich Zauberei und Kenntnis der Runen.
Fuþark oder das „Runenalphabet“
Das Runenalphabet wird nach den ersten sechs Runen der Runenreihe Fuþark (oder Futhark) genannt. Die Runenzeichen trugen jeweils einen Eigennamen und bestanden von Anfang an. Sie beziehen sich auf die drei Existenzebenen der germanischen Welt, die Welt der Götter und Riesen, die der Menschen und die der Natur. Die Runen ás („Ase“), þurs („Riese“) und týr („Tyr“) können z.B. zur Götterwelt gerechnet werden, die Runen maðr („Mensch, Mann“),fé („Vieh“) und kaun („Geschwür“) zur Menschenwelt (isl. mannheimr) und íss („Eis“), lögr („See, Gewässer“) und bjarkan („Birke“) zur Natur.
Es gibt zum einen das ältere Futhark, welches die germanischen Völker über mehrere Jahrhunderte benutzten. Dieses bestand noch aus 24 Runen, doch in Nordeuropa waren Runen um einiges länger in Gebrauch und dort setzte zum Beginnder Wikingerzeit eine Veränderung ein, die Runenzeichen wurden weniger und einige bekamen eine einfachere Form. Das jüngere Futhark zählte nur noch 16 Runen und somit bezeichneten einige Runen mehr als einen Laut, z.B. stand damals dieselbe Rune für i und e, eine andere für o und u oder v, die Dritte für k und g, - und so weiter. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Veränderungen bewusst durchgeführt wurden, denn sie weichen soweit vom älteren Alphabet ab, dass man eher von einer Grunderneuerung sprechen kann denn von einer Weiterentwicklung (des älteren). Übrigens scheint das Futhark nach der Einführung der lateinischen Schriftzeichen in den nordischen Ländern wieder ausgeweitet worden zu sein, wahrscheinlich wegen des Einflusses des lateinischen Alphabetes, welches aus 24 Buchstaben bestand.
Trotz ihres mit Göttern verbundenen Ursprungs und der Beziehung zu Zauber und Geheimnis scheinen die Runenzeichen nicht wesentlich in Opposition oder Widerspruch zur lateinischen Schrift gestanden zu haben, welche die nordischen Völker in Folge des Christentums adaptierten. Ganz im Gegenteil, einige von ihnen wurden als Abkürzungen in die Schrift übernommen. Darauf weisen auch die Runen aus dem Mittelalter hin, die häufig auf Grabsteinen und Kirchengeräte zu finden sind. Um 1300 widmet man sich auf Island zum ersten Mal dem Brauch, kurze Inschriften mit Runenzeichen in Grabsteine zu ritzen, was bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts gelegentlich vorkommt. Danach lebt das Runenwissen weiter bei Historikern, Holzschnitzern und als Zauberzeichen.
Mangel an Runenkenntnis oder an isländischen Quellen?
Die Quellen über das Runenwissen der ersten auf Island ansässigen Generationen sind spärlich; die ältesten Runeninschriften werden auf das 12. Jahrhundert datiert. Bei einer archäologischen Ausgrabung in Reykjavík fanden sich jüngst Runeninschriften von großer Bedeutung, darunter zwei Runenstäbe, wahrscheinlich älter als die bisher bekannten Inschriften. Dieser Fund wirft zweifellos neues Licht auf die Runenpraxis im frühen Island.
Eine denkbare Erklärung, warum so wenige Runeninschriften auf Island erhalten geblieben sind, könnte sein, dass diese meist in Holz geritzt wurden und verloren gingen. Zu der Zeit, als das Land besiedelt wurde, scheint es tatsächlich in Norwegen noch nicht üblich gewesen zu sein, Runen in Stein zu meißeln, und von dort kam ein Großteil der Siedler. Die Leute in Island verfügten zweifellos von Beginn an über Wissen über die Runen und somit zum Gebrauch der Schriftzeichen und ihrer Deutung, aber erst als die christliche Buchkultur ihren Einzug hielt, wurden längere Texte auf Pergament geschrieben.
Hér má lesa ‘maðr er mannz gaman’ úr 47. vísu Hávamála, m-rúnin er stytting fyrir orðið ‘maðr’. |
Hér tákna tvær m-rúnir fleirtölu orðsins maður: renr iannara manna lond. |
Der Gebrauch von Runen in isländischen Handschriften
Die Norweger und später auch die Isländer nahmen den Buchstaben þ, der im Grunde der Rune þurs entspricht, nach englischem Vorbild in ihre Schrift auf, doch die Form der Rune ist nordisch und aus dem jüngeren Runenalphabet übernommen. Der Buchstabe þ findet sich mittlerweile nicht mehr in den norwegischen und englischen Alphabeten, wohl aber noch immer im isländischen. Es ist auch bekannt, dass die Runen für m und f als Abkürzungen verwendet wurden, jeweils für die Bedeutung ihres Namens, also die Wörter maðr („Mann, Mensch; man“) und fé (Vieh; Vermögen, Besitz). In einem der ältesten erhaltenen Fragmente des Gesetzbuches Grágás („Graugans“), AM 315 d fol. aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, gibt es Beispiele für den Gebrauch der m-Rune. Dort werden auch Deklinationsmuster wie etwa Pluralbildung orthographisch dargestellt
Mehrere Beispiele finden sich in Handschriften des 13. Jahrhunderts, dem Codex regius der Lieder-Edda, Gks 2365 4to, von ca. 1270, und dem Codex Regius der Grágás, Gks. 1157 fol., von ca. 1250. Die m-Rune findet sich auch in einem Verzeichnis isländischer Priester, in Gks. 1812 4to III und in einem Fragment aus dem Buch von Bischof Þorlák Þórhallsson dem Heiligen, AM 645 4to, die beide aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammen. Beispiele für den Gebrauch der f-Rune sind seltener, doch finden sich solche in AM 623 4to, einer Handschrift mit Heiligenlegenden, und in AM 325 VII 4to (1250-1300) mit der Ólafs saga helga Haraldssonar Noregskonungs, die ebenfalls ins 13. Jahrhundert datiert werden.
Möglicherweise fällt der Gebrauch der Runen zusammen mit einem wachsenden Interesse an der Antike das seit dem 12. Jhd. eine Renaissance erlebte. Snorri komponierte seine Edda, die ein Lehrbuch für die alte Dichtkunst darstellt, vielleicht um die Lehre der Kirche mit der Tradition der Preisdichtung, welche auf dem alten Glauben und auf Göttersagen beruht, „auszusöhnen“. Die Eddalieder werden gesammelt und in ein Buch geschrieben, und so kommt in dieser Periode der Codex Regius der Lieder-Edda zustande. Diese Zeit fällt auch zusammen mit dem Zeitalter des norwegischen Runengedichts (um 1300) und der Runenhandschrift auf Dänisch. Allerdings wurden Runen in Handschriften des 14. Jahrhunderts kaum mehr gebraucht.