Inhalt der Handschriften 1150 – 1250
Skulptur von Ásmundur Sveinsson, die Sæmundur den Gelehrten auf dem Seehund zeigt. Sie steht vor dem Hauptgebäude der Universität Islands. |
Vor Einsetzen der Handschriftenüberlieferung
In den gut 150 Jahren von der Christianisierung Islands bis zu der Zeit, aus der die ersten überlieferten Handschriftenfragmente erhalten sind, waren wahrscheinlich trotzdem Bücher und andere Dokumente auf Island vorhanden. Für kirchliche Belange wurden lateinische und volkssprachliche Schriften – ursprünglich in der Volkssprache verfasste ebenso wie Übersetzungen lateinischer Texte – von Beginn an benötigt. In dieser Zeit wurden die beiden Bistümer des Landes gegründet, Skálholt im Jahr 1056 und Hólar im Jahr 1106. Der Zehnt und das Christenrecht wurden eingeführt und Klöster wurden gegründet. Mit diesem Prozess ging die Nutzung der Schrift eng einher.
Das Kloster Þingeyrar wurde im Jahre 1112 von Jón Ögmundarson, dem ersten Bischof von Hólar, gegründet und 1133 offiziell eingeweiht. Im 12. Jahrhundert wurden mindestens sieben Klöster im Lande gegründet, von denen fünf bis zur Reformation durchgängig aktiv waren. In einigen wurde eine umfangreiche Buchproduktion und Geschichtsschreibung betrieben, in Þingeyrar sogar schon um 1200. Zur gleichen Zeit ernannte die isländische Kirche mit Þorlák Þórhallsson und Jón Ögmundarson zwei heimische Bischöfe zu ihren ersten Heiligen. Damit begann die Niederschrift von Heiligenviten, Legenden und Mirakelsammlungen auf Lateinisch und Isländisch.
Lateinkundige Isländer und heimische Gelehrtenschriften
Über die Lateinkenntnisse und die ältesten lateinischen Texte auf Island ist relativ wenig bekannt. Übersetzungen verschiedener lateinischer Werke sind überliefert und es wurden auch Werke auf Latein verfasst, von denen jedoch fast alle nicht erhalten sind. Der Beginn der Lateinbildung wird oft mit dem Gelehrten Sæmund Sigfússon (1056-1133) in Verbindung gebracht, der der gelehrteste Mann seiner Zeit war. Er war Gode und Priester in Oddi im Rangárvellir, leitete dort eine Schule und war an der Formulierung der Zehntgesetze und des Christenrechts auf Island beteiligt. Das schriftliche Werk Sæmunds, wahrscheinlich auf Latein verfasst, und möglicherweise das erste überhaupt aus der Hand eines Isländers, ist nicht überliefert.
Sæmund schrieb über historische Stoffe, die das gelehrte Schreiben prägten, unter anderem die norwegischen Könige. Teile seiner Schriften werden in späteren Werken, wie z.B. der von dem Mönch Odd Snorrason verfassten Saga von Ólafur Tryggvason und der Landnámabók, bezeugt. Er war auch an der Fertigung der Íslendingabók Aris des Gelehrten beteiligt. Dieser legte Sæmund und den Bischöfen des Landes das Buch vor, während er in den Jahren 1122–33 daran arbeitete. Aus seiner ersten Version entfernte Ari Stammbäume und Lebensläufe der Könige, wahrscheinlich das erste, was auf nordischer Sprache über die norwegischen Könige niedergeschrieben wurde. Ari gilt als der erste, der gelehrte Schriften in seiner Muttersprache verfasste, wie der Verfasser der Ersten Grammatischen Abhandlung in der Mitte des 12. Jahrhunderts erwähnt.
Quellen und Überlieferung der Handschriften
Verschiedene Schriftquellen berichten von den 150 Jahren, aus denen keine Bücher oder Urkunden erhalten sind. Einige Erzählungen reichen sogar bis in die Zeit vor der Landnahme zurück. Diese Schriftzeugnisse werden durch archäologische Funde und Denkmäler, sowie durch sämtliche isländischen Siedlungen, ergänzt. Die überlieferten Texte aus dem Mittelalter werden fast alle älter datiert als die Handschriften, in denen sie erhalten sind, und die Zeitspanne zwischen Abfassung und Bezeugung durch die ältesten Handschriften ist sehr unterschiedlich lang. Es ist schwierig festzustellen, ob und wie weit sich ein Werk von seiner ursprünglichen Fassung entfernt hat. Viele Texte sind außerdem auch in unterschiedlichen Versionen überliefert, die oft aus fast gleichaltrigen Handschriften stammen. Der Quellenwert alter Schriften und Erzählungen wurde, und wird immer noch, unterschiedlich bewertet, unter anderem abhängig von ihrem Inhalt, Zweck und ihrer Überlieferung und auch in Abhängigkeit von Ansichten und Interessen der breiten Bevölkerung und der Wissenschaftler einer Zeit.
Die ältesten überlieferten Texte, von ca. 1150–1200
Fragmente aus übersetzten Heiligenlegenden gehören zu den ältesten Handschriftenzeugnissen. Zum Beispiel die Saga des Heiligen Placidus (auch bekannt als Eustachius) von 1150–1200 (AM 655 IX 4to), von dem auch eine umfangreiche Drápa (Preislied) in Handschriftenfragmenten von 1175–1225 (AM673 b 4to) erhalten ist. Darin wird der Inhalt der Saga im Versmaß des Dróttkvætt ("Hofton") wiedergegeben, das in der nordischen Dichtertradition das Versmaß der Lobgedichte für Könige und andere weltliche Herrscher ist. Die Saga über den Erzbischof Nikolaus (AM 655 III 4to) wird auf das gleiche Alter geschätzt wie die Plácitusdrápa.
Theologische und moralethische Erbauungsschriften
Die älteste Übersetzung der theologischen Lehrschrift Elucidarius (oder Lucidarius, AM 674 a 4to, genannt „Das teure Buch“) wird auf ca. 1150–1200 datiert, während zwei unterschiedliche Übersetzungen des Physiologus (Der Naturkundige), auf ca. 1200 (AM 673 a I und II) datiert werden. Beide Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und waren weit verbreitet, unter anderem als Lehrbücher für Priesteranwärter. Der Physiologus ist eine christlich-allegorische Tierlehre mit Bildern, auf denen die moralethischen Merkmale der Tiere hervorgehoben werden. Das Werk hatte großen Einfluss auf die Semiotik des europäischen Mittelalters, in Kunst und Literatur, sowie auf die Bestiarientradition. Eines der beiden Physiologus-Fragmente (II) ist in der Teiknibók (Das Zeichenbuch, AM 673 a III 4to) erhalten, und die Bilder aus beiden Überlieferungen dienten bis ins 17. Jahrhundert als Vorlagen der isländischen bildenden Kunst.
Bemerkungen zur Geschichtsschreibung in der Muttersprache
Aus der Zeit von 1175–1225 stammen die ältesten Fragmente der Veraldarsaga (Die Weltgeschichte, AM 655 VII und VIII 4to), die auf ausländischen Stoffe aufbaut und zu den ältesten historiographischen Schriften Islands zählt. In der Veraldarsaga wird die Geschichte der Welt chronologisch aufgeführt, in Übereinstimmung mit den Tagen der Schöpfung in sechs Zeitaltern. Manchmal sind es aber auch sieben oder acht Zeitalter. Die Rómverjasaga (Römersaga) wird auf die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert und besteht aus Übersetzungen lateinischer Klassiker, Lehrbüchern dieser Zeit, die auf Island zu einer Geschichte zusammengefasst wurden. Die älteste Handschrift ist von ca. 1325–40, sodass sich die frühe Datierung der Saga, die in zwei Versionen vorhanden ist, auf anderen Beweisen als der Textüberlieferung begründet ist.
Fragment aus der Abhandlung über Komputistik (Kalenderberechnung) im ältesten Teil von GKS 1812 4to (IV), das auf um 1200 datiert wird. |
Verbindungen zur europäischen Gelehrsamkeit
Die Kirche war stets bestrebt, ihre Lehren und ihre Gelehrsamkeit zu festigen. Im 11. und 12. Jahrhundert studierten einige Söhne hochrangiger Isländer an ausländischen Schulen und es ist auch bekannt, dass isländische Männer und Frauen in den Süden fuhren und Pilgerreisen, sogar bis nach Rom oder Jerusalem, unternahmen. Auf diesem Weg wurden neue Ideen und Kulturströmungen mit ihnen nach Island gebracht. Pilger, die oft in Klöstern untergebracht waren, kamen dort möglicherweise in Kontakt mit bedeutenden Schriften oder Lehren und tauschten Geschichten mit den Einheimischen oder anderen Pilgern aus. Die Leiðarvísir (Wegweiser) des Abts Nikulás Bergsson, von ca. 1150, ist der einzige erhaltene Reisebericht eines isländischen Pilgers, der in einer Sammelhandschrift von 1387 überliefert (AM 194 8vo) ist.
An erhaltenen Handschriften und Handschriftenfragmenten lassen sich ab der Mitte des 12. Jahrhunderts Verbindungen zwischen isländischen Schriften und den Hauptströmungen westlichen Ideenguts erkennen, die aus der Zeit stammen, in der die Schriften verfasst wurden. Übersetzte Texte wie der Elucidarius und der Physiologus bezeugen dies. Auch die ersten Anzeichen für die Entstehung der Sagaliteratur wurden in jener Zeit sichtbar. Thema und Vorgehensweise richteten sich zwar nach der Gelehrtenkultur Europas, aber es wurde auf Isländisch geschrieben.
Inhalt der Handschriften bis 1250
In den überlieferten Handschriften und Handschriftenfragmenten von ca. 1200 bis Mitte des 13. Jahrhunderts werden ähnliche Stoffe thematisiert, wie im vorangegangenen Zeitraum. Dies sind überwiegend Homilien, Heiligenlegenden, Rechtstexte und Zeitrechnungslehre, aber auch die ältesten Beispiele für Apostelgeschichten (AM 655 XII-XIII und AM 645 4to) und Schriften wie der Mariu saga (AM 655 II und XIX 4to) und der Niðurstigningarsaga (Saga von der Höllenfahrt Jesu, AM 645 4to). Die Dialoge Gregors des Großen und seine Homilien sind gemeinsam mit der Vita Benedikts von Nursia, dem Begründer des Benediktinerordens, in einer unvollständigen Handschrift (AM 677 4to) vom Anfang des 13. Jahrhunderts, enthalten. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Überlieferungen von Heiligensagas isländischer Bischöfe und Erzählungen über nordische Könige.
Schriften über isländische Bischöfe und nordische Könige
AM 645 4to ist der Rest zweier Bücher, von ca. 1220 und 1225–50, und die älteste Sammlung von Heiligenlegenden in nordischer Sprache. Im älteren Teil befindet sich die älteste Version der Jarteinabók (Mirakelsammlung) des Heiligen Þorlák (1133–93), Bischof von Skálholt und erster isländischer Heiliger. Seine Gebeine wurden im Juli 1198 ausgegraben und auf dem Althing im darauffolgenden Sommer wurden die ersten Wundergeschichten über ihn vorgelesenund seine Heiligsprechung beschlossen. Das Verfassen von Heiligenlegenden über Þorlák, auf Latein und Isländisch, setzte ungefähr gleichzeitig mit seinem Heiligenkult ein, und in katholischer Zeit waren ihm über 50 Kirchen geweiht.
Die ältesten erhaltenen Fragmente mit Sagas über norwegische Könige werden in die Zeit datiert, ebenso wie die älteste isländische Urkunde (AM Dipl. Fasc. LVX nr. 1). Die älteste Saga über den norwegischen König Olav den Heiligen, ist von der Anlage her eher eine Heiligenlegende. Sie wurde ca. 1190 verfasst und ist im Fragment NRA 52 von 1220–30 erhalten, das sich in Norwegen befindet, aber wohl auf Island geschrieben wurde. Von den Wundern Ólafs, vielleicht aus einer anderen Version der Saga, wird in AM 325 IVα 4to von 1225–50 erzählt. Das Ágrip af Noregskonunga sögum (Abriss der Geschichte der norwegischen Könige) in AM 325II 4to von 1200–1249, ist ein säkuläresWerk, wohl von einem Norweger um 1190 verfasst. Die einzige erhaltene, unvollständige Handschrift ist isländisch. Das Ágrip ist eine Zusammenfassung, die wahrscheinlich ursprünglich den Zeitraum von 850–1177 abdeckte. Es enthält Verse im Drottkvætt (Hofton), wie sie in nordischen Königssagas häufig vorkommen. Diese Verse waren ursprünglich Lobgedichte der Hofskalden, die bereits seit dem 9. Jahrhundert über das Leben und Wirken der Könige gedichtet wurden. Sie sind in vielen Sagas überliefert.
Nordische Ursprungserzählungen
Die Bewohner des Nordens begannen Anfang des 12. Jahrhunderts ihre Ursprungserzählungen zu verfassen und verbanden so ihre Länder mit der christlichen Historiographie des Mittelalters. Genealogien der Könige bis zu Noah oder Adam verorteten die Herkunft von Volk und Königtum innerhalb deschristlichen Weltbilds. Sæmund der Gelehrte wird mit dem Entstehen von Königsviten auf Latein verbunden, Ari der Gelehrte mit altisländischen Königsviten, obwohl dessen Königsviten ebenso wenig erhalten sind wie die Schriften Sæmunds. Auch das Hryggjarstykki (Rückenstück) Eirík Oddssons, von ca. 1150-70, ist nicht überliefert, wird aber in jüngeren Werken wie der Morkinskinna (Das verrottete Pergament) und der Heimskringla (Weltenkreis) verwendet. Hryggjarstykki gilt als erste Zeitgeschichte der norwegischen Könige und enthielt Augenzeugenberichte von Konflikten des norwegischen Königtums 1136–39.
Bekannte und überlieferte Werke auf Altnordisch und Latein
Die Geschichte der Isländer war zu jener Zeit kurz, daher wurde der Blick auf der Suche nach geschichtlichen Stoffen auch nach Norwegen und zu den nordischen Siedlungen gerichtet. Aufzeichnungen über die Landnahme, den Beginn der Besiedelung und des Christentums, wurden, ebenso wie die Königssagas, in der Volkssprache verfasst. Auch die Norweger schrieben im 12. Jahrhundert ihre Geschichte nieder. Zwei lateinische und zwei volkssprachliche Werke sind überliefert, das Ágrip af Noregskonungasögum (Abriss über die Geschichte der norwegischen Könige) und die Fagurskinna (Noregskonungatal) (Das schöne Pergament, Liste über die Könige Norwegens) von ca. 1200. Letztere ist heute nur noch in einer Abschrift überliefert, da die Handschrift 1728 beim großen Brand von Kopenhagen verbrannte. Auf Latein gibt es zum einen die Historia de Antiquitate Regum Norwagiensium (Geschichte der norwegischen Könige von Altersher, bis 1130), die zwischen ca. 1177 und 1188 vom Mönch Theodricus verfasst wurde, zum anderen ist uns die Historia Norwegiae (Geschichte Norwegens), aus dem 12. oder 13. Jahrhundert in einer schottischen Abschrift von ca. 1500 erhalten, wahrscheinlich nach einer orkneyischen Vorlage. In der Geschichte Norwegens finden sich Beschreibungen der Länder, die die Norweger besiedelten: die Orkneys, die Shetland-Inseln, die Färöer, Island und Grönland.
Um 1200 verfasste Saxo Grammaticus (1150–1220) die Geschichte Dänemarks (Gesta Danorum) im Auftrag des Erzbischofs Absalon von Lund. Das Werk enthält Ereignisse von der Antike bis 1186, der Schwerpunkt liegt allerdings auf den Herrscherjahren Waldemars I. (gest. 1182), ein Pflegebruder Absalons. Auf Island wurde ca. 1180–1200 die Skjöldunga saga verfasst, die von den alten dänischen Königen bis zu Gorm dem Alten (gest. ca. 959) handelt. Die Saga ist nicht erhalten, aber Teile von ihr wurden in andere Werken aufgenommen und ein Fragment aus der jüngeren Version ist in der Handschrift AM 1 e beta I fol. überliefert. Dieses Fragment war ein Teil des Buches, aus dem auch ein Fragment der Knýtlinga Saga erhalten ist, heute AM 20 b I fol, die von den Dänenkönigen von ca. 950–1187 berichtet. Dieses Buch enthielt folglich die gesamte Geschichte der Dänenkönige vom Altertum bis zu den Tagen Knuds VI. (gest. 1202), eines Sohnes Waldemars I. Im 17. Jahrhundert schrieb der Gelehrte Arngrímur Jónsson eine lateinische Nacherzählung in seinen Rerum Danicarum Fragmenta (Dänengeschichte Arngrímurs), die als beste Quelledes Inhalts des Werkes gelten.